Kutschfahrt — Reisetagebuch

Hoch auf dem gelben Wagen - Kutschfahrt der Maria-Pawlowna-Gesellschaft von Weimar nach Leipzig vom 5.6. bis 9.6.2023 – ein Reisetagebuch

Von Iris Kerstin Geisler 

Vielleicht erinnert sich der Weimarer Schlossplatz an diesem Morgen des 5. Juni 2023 zurück: An die Zeiten, als Damen in langen Empirekleidern aus bestickter Seide, Samt, mit Jäckchen, glänzenden Schleifen, golddurchwirkten Gewändern, perlenbesetzten Hüten mit Tüllschleiern, aufwändigen Spitzenschirmen vorm Schloss tagein, tagaus entlangliefen. Und an die Herren in schwarzen Fräcken, frisch gebürsteten Zylindern, Westen, weißen Hemden mit steifen, hohen Kragen („Vatermördern“), als auch sie zum alltäglichen Stadtbild der Residenz gehörten.
Die historische Aufmachung unserer Reisegruppe zieht die Presse an, ein Filmteam und Schaulustige, die sich schon in aller Frühe um 8 Uhr morgens einfinden.
Sonnenschein, welch glücklicher Reisevorbote!
Gisela Kordes und Jörg-Ulrich Stange sind aus Kiel angereist, um uns zu begleiten. Jörg-Ulrich Stange hat den Vorsitz des Kieler Zarenvereins inne.
Der Weimarer Bürgermeister Ralf Kirsten begrüßt und wünscht uns das Beste für das ungewöhnliche Unternehmen. Mit Kutschen soll es nach Sachsen gehen. Auf abseitigen, ungehobelten Pfaden nach Leipzig, in die große Stadt. Vier ganze Tagesreisen von Weimar entfernt.
Und dann kommen die Kutschen auf den Schlossplatz vorgefahren. Die Kutscher schwingen die Peitschen, sitzen auf den hohen Kutschböcken in gelben Uniformen. Alles strahlt.
Die große gelbe Postkutsche, ein Nachbau der ehemaligen „Sächsischen Pferdepersonenpost“. Das steht in Sütterlin an der Tür. Darüber ein Posthorn. Ein Vierspänner. Sie fasst neun Personen! Die zwei kleineren sind Landauer-Zweispänner mit verstellbaren Verdecken, für je vier Personen. Alle staunen sie an. Die elegante Schönheit alter Tage, deren Anblick in der modernen Welt verschwunden ist. Hier dürfen wir wirklich einsteigen? Wir schauen und schauen und können uns nicht abwenden.
Das Staunen bleibt auf der ganzen Reise. So auch der Geruch der Pferde, ihr Wiehern, ihr Trappeln.
Postillione früherer Zeiten waren Männer, heute kutschieren uns Monika Sonntag, Kerstin Händler und Siegfried Händler und uns als Beifahrer sind Kerstin Bazan und Hartmut Ullrich dabei. Unser fleißiger «Marketender» ist Fabian Sonntag. Alle tragen zünftige Hüte. Schon wird flink eine Leiter an die Postkutsche angestellt, wir dürfen auf dem steilen Stieg hinein. Der Kutscher hält eines jeden Hand, bei jedem Ein- und Ausstieg. Zu unserer Überraschung finden wir innen ein mit dunkelgrünem Samt ausgeschlagenes Coupé vor! Und weich gepolsterte Plätze! Das Verdeck lässt sich öffnen. Übrigens brauchen wir keinen Reisepass, wie damals üblich. Die Personaldokumente waren noch nicht erfunden. Man beschrieb anhand persönlicher Merkmale die Reisenden, ihre Gesichtsfarbe, ihre Bartform etc. Handschriftlich mit Feder und Tusche. Auf gewöhnliches Papier jener Tage. Innenplätze galten als die teuersten.
Unser Brautpaar, die russische Großfürstin Maria Pawlowna und der Erbprinz Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach – Gerlind und Michael Häublein – reist in einem Zweispänner. Bei der Ausfahrt stößt der Kutscher — wie es sich gehört — ins Posthorn. Die Schaulustigen winken. Und unser Musiker Michael Pein stimmt das Volkslied „Hoch auf dem gelben Wagen“ an. Im Tempo von 6 km/h liegt die Stadt bald hinter uns. Wir singen. Die Pferde trappeln. Ganz langsam gleitet die Landschaft an uns vorbei. Die Kutschen schaukeln, aber nicht so heftig wie erwartet. Es ist ein stilles Dahinziehen, die Vögel zwitschern um uns herum. Verdeck und Fenster geöffnet, sind wir ganz in der Natur. Keine Bundesstraßen, keine Landstraßen. Nur in Ausnahmefällen nehmen wir sie, wenn es vom Weg her gar nicht anders möglich ist. Feldwege. Wiesenwege, ausgespült vom Regen. Über Stock und Stein. Auf den Waldwegen ist es besonders heimelig: überall frisches Grün um uns herum, Zweige ragen plötzlich von allen Seiten in die Kutsche hinein. Wir erschrecken ein bisschen und lachen. Und fangen an zu erzählen. Einander kennenlernen. Stellen fest, dass wir eine internationale Gruppe sind.
Wir singen deutsche Lieder, die russischen Frauen singen russische Lieder. Michael und Irina sind wahre Meister im Spielen der Gitarre, wenn es ab und an mal tüchtig holpert.
Schon in der ersten Stunde setzt eine Entschleunigung ein, die uns ganz aus der Zeit heraushebt. Sie hält an. Mit jedem Einstieg in die Kutsche diese Zeitverschiebung. Sich ganz langsam durch die junigrüne Natur zu bewegen, vorbei am roten Mohn, der an den Feldrändern steht. Die aufgegangene Saat zu beobachten. Alte Heckenrosenbüsche mit rosa Blüten und Holunderbüsche mit stark duftenden Dolden. Am Wegrand viele kleine Frühlingsblumen, bunt. Man will das Auge einfach nicht davon lassen.

Nach einer Stunde erreichen wir das Dorf Süßenborn. Ein Sopransaxophonist bläst zu unserer Begrüßung eine Weise. Bürgermeister Christiani ganz im historischen Kostüm und auch andere Süßenborner! Sie bereiten uns einen herzlichen Sektempfang. Mitten im Ort steht die vor kurzem enthüllte Schautafel der Maria-Pawlowna-Gesellschaft, die in deutscher und englischer Sprache die Reiseroute des Brautpaares von 1804 nachzeichnet und erklärt.
Süßenborner Apfelsaft, eine Spezialität, wird uns zu Fettbroten gereicht. Am Ort liegen Streuobstwiesen mit ganz alten Apfelsorten an, aus denen der milde Apfelsaft bereitet wird. Ein erfrischender Genuss!

Weiter geht die Reise nach Apolda. Wir machen eine Kaffeepause an einem Pavillon am See im Park. Und Beate Herrmann, die «Jungfer Wenzel», die uns zur Postgeschichte in Weimar geführt hatte und heute mit uns reist, hat Geburtstag. Wir singen russische und deutsche Geburtstagslieder für sie. Das bringt noch mehr Leichtigkeit und Freude in die Gruppe. Irina schenkt roten Johannisbeerlikör homemade by herself ein. Köstlich! Und Beate Herrmann, heute als Caroline Falck kostümiert, liest uns aus dem Kriegsbüchlein des Weimarer Pädagogen und Begründer der Jugendsozialarbeit, Johannes Daniel Falk, von 1813 vor.
Wir verlassen Apolda Richtung Auerstedt.
Die Kutscher rufen: Hepp! Hepp!, schwingen die Peitsche und schnalzen mit der Zunge. Die Pferde gehorchen sofort, trappeln los. Wir schauen hinaus. Und singen mit Michael zur Gitarre.

Sobald wir mit der Kutsche durch die Dörfer ziehen, kommen Menschen aus ihren Häusern, zücken ihre Handys, filmen blitzschnell oder lächeln uns einfach beglückt und überrascht an. Manche winken, trauen ihren Augen nicht und staunen über das seltene Spektakel. Ein Zauber geht von diesen alten Kutschen aus, die man ja nie mehr einfach so vor der eigenen Haustür sieht. Als lebten alte Kinderbücher aus längst vergessenen Tagen wieder in uns auf.
Zwischendurch steigen wir vor einer Anhöhe einmal aus, um die Pferde zu schonen. Sie sollen uns noch viele Kilometer durch die Landschaft bringen. Eine Entlastung. Ein fröhliches Wandern die Straße hinauf.

Auerstedt. Bürgermeister Dirk Schütze und engagierte Auerstedter Bürger erwarten unsere Ankunft in der Ortsmitte. Nach einer herzlichen Begrüßung wird die nächste Maria-Pawlowna-Gedenktafel enthüllt. Die Presse und SALVE TV begleiten es. Wir genießen gut gekühlten Prosecco.
Gleich im Anschluss können wir das Historische Kutschenmuseum am Schloss besichtigen. Es gibt eine Führung. Wie genau passt dieses Museum in unsere Zeitreise, in unser Zeitgefühl des beginnenden 19. Jahrhundert. Da lebte Friedrich Schiller noch in Weimar!
Wir bestaunen die acht Kutschen des Weimarer Hofes, ihre prunkvolle Ausstattung, die Winter- und Sommerkutschen. Alle tragen unterschiedliche Namen, ganz nach ihrer Verwendungsform. Ehrfurchtsvoll stehen wir vor der originalen Hochzeitskutsche von Maria Pawlowna, in der sie mit ihrem Gemahl Carl Friedrich nach ihrer Hochzeit von Sankt Petersburg nach Weimar fuhr. Sie ist ein Geschenk ihres Bruders, Zar Alexander. Sie waren vom 7. Oktober bis zum 9. November 1804 damit unterwegs. Die Kutsche war in ihrer Zeit so modern ausgestattet, dass sie sogar eine kleine Reisetoilette enthielt, die gezeigt wurde. Ein Herr des Sächsisch-Werderischen Corps (SWC), Herr Witzel aus Großenneuhausen, steht in der originalgetreuen Uniform des Corps im Museum. Er wirkt so echt — wie aus der Zeit gefallen. Gestattung und Verbot des Corps wechselten sich in den Zeiten ab. Herr Witzel betreibt Traditionspflege in einem Schützenverein im Heimatort. Die Familie von Neuendorf von der „Wettiner Fürstenstraße“ ist in historischen Kostümen auch dabei. 
Neben den Kutschen gibt es eine Sammlung historischer Landwirtschaftsgeräte aus der Umgebung.

Voller Eindrücke und in bester Reiselaune speisen wir in der Gruppe im Schloss Auerstedt. Es gibt heute wie auch an folgenden Abenden genug zu plaudern.
Viel Applaus und Dankbarkeit gehen an das wunderbare Organisationsteam!

Wer mutig ist, kann frühmorgens den Tag im Pool begrüßen. Oder auf einem Spaziergang Auerstedt kennenlernen: die Kirche, das alte Backhaus mit Schulanbau, den Emsenbach. Überall findet der Tourist in deutscher und englischer Sprache Erklärungen oder kleine Anekdoten zum Ort vor.
Nach dem Frühstück brechen wir gen Kösen auf. Marion Schneider und Klaus Dieter Böhm, beide Unternehmer in Bad Sulza und Auerstedt, steigen zu.
Der Himmel gibt sich bedeckt, es wird kühler. Leichter Regen lässt die alten Pflastersteine am Schloss glänzen. Die Verdecke der Landauer werden geschlossen. Unter einem solchen Himmel sieht die Welt gleich ganz anders aus. Unser Musiker Micheal singt seine „Regenballade“: Regenzeit ist über die Erde gekommen / Regenzeit wird auch vergeh’n / Doch ich liebe, wie es ist, das Grau und das Grün und dich, wie du bist. Und eh der Baum sein erstes Blatt verloren, wird schon die Knospe für ein Neues geboren / Regenzeit ist schön.“
Wir unterhalten uns und haben Zeitvertreib.
Da wir aus so verschiedenen Gegenden Deutschlands stammen, hat ja jede Region auch ihre ureigenen Rezepte. So gibt uns Barbara die Zubereitung einer BADISCHEN ZWIEBELWEIHE weiter: Pizzateig auf einem Blech ausrollen / 4 mittelgroße rote Zwiebeln kleinschneiden und in recht viel Butter glasieren / auf dem Teig dünn verteilen, pfeffern, salzen / dünne Speckscheiben zerschneiden und darauf geben / In den Ofen schieben und backen / herausnehmen und mit einem frischen Salat servieren / Guten Appetit!
Niemand von uns in der Kutsche hat je etwas von einem Gericht namens „Weihe“ gehört.

Auf dem Weg nach Bad Kösen sehen wir nun häufiger Weinstöcke, in privaten Gärten am Haus, aber auch an den Hängen. Das Saale-Unstrut-Weinanbaugebiet beginnt.
Die nächste Pause ruft. Die Pferde brauchen Futter und Tränke, wir halten vor der Konditorei Schoppe Bad Kösen. „Ein süßes Stück Bad Kösen“ liegt vor uns: Liebesknochen, Florentiner, Leipziger Lerchen, Erdbeertörtchen, Himbeerstücken, Zitronenkuchen, Johannisbeer- und Stachelbeerbaiser, Sacher, Mokkatorte, Pfirsich-Maracuja-Traum, Schokocremetorte… Oder doch lieber einen deftigen Speckkuchen? Oh je!
Schließlich findet ein jeder seins und zwischen den prächtigsten Kachelöfen des Burgenlandkreises trinken wir Kaffee und sündigen Süßes, in aller Stille.
Die zwei hohen Öfen sind im Jugendstil erbaut worden. Einer verfügt über reich verzierte Kacheln in türkisblauer und beiger Ornamentik. Auf dem zweiten liegen auf flaschengrünen Kacheln fein ziselierte Ranken mit Blumenköpfen.

Die Kutscher rufen laut: Hepp! Hepp! – Wir steigen ein Den freundlich-neugierigen Kösenern winken wir aus unserer Kutsche mit Hannes Waders Lied: „Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort“ zu und fahren aus der Stadt hinaus.
An einem nahegelegenen Bahnübergang scheuen die Pferde und wollen nicht über die Schienen. Die Kutsche ruckelt und steht plötzlich. Beherzt springt die Kutscherin ab, besänftigt die Tiere und führt sie langsam über die Gleise.
Schon überqueren wir singend die Saale: „An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn“, ein altes Lied aus dem Jahre 1826 von Franz Kugler. Er schrieb es in Rudolstadt.
Mehr und mehr Weinberge liegen am Wege.
Irina, Katja, Regina und Jana singen russische Liebeslieder. Wir hören andächtig zu. Auch „Moskauer Abende“, „Schwarze Augen“, „Katjuscha“, uns bekannte und unbekannte Lieder.
Wir fahren am Kloster Schulpforta mit der ehemaligen Klosterkirche vorbei, die im Jahre 1320 errichtet wurde. Der Regen hat sich verflüchtigt. Er lässt die Natur frisch gewaschen zurück.

Naumburg. Über die Kösener Straße/Ecke Krumme Hufe fahren wir in Naumburg ein. Vorbei am großen Gebäude der ehemaligen Preußischen Kadettenanstalt, die heute das Bundessprachenamt Sprachenzentrum Ost der Deutschen Bundeswehr beherbergt.
Bei der Ankunft auf dem Marktplatz stehen viele Naumburger zur Begrüßung bereit. Sie sprechen uns an, interessieren sich für die Kutschen und den Zweck der Reise. Die Presse hat täglich über unsere Route informiert.
Wir werden vom Vertreter des Oberbürgermeisters, Herrn Ohse, erwartet und begrüßt.
Gleich holt uns der Stadtführer Dr. Matthias Ludwig ab und zeigt uns das alte Naumburg, unter anderem die enge Jüdengasse. Sie war schon im Jahre 1350 das Wohnviertel der Naumburger Juden. Namen der Familien sind in eine Steinwand graviert.
Auf dem Holzmarkt steht das Friedrich-Nietzsche-Denkmal. Der berühmte Philosoph verbrachte hier den Großteil seiner Kindheit und Jugend, besuchte Elementarschule und Domgymnasium. Für das ehemalige Wohnhaus der Familie, heute das Museum „Nietzsche-Haus“, bleibt keine Zeit. Wir springen lächelnd unter der spannenden Führung von Herrn Dr. Ludwig durch die Jahrhunderte. Die Stadt lag an der bedeutenden mittelalterlichen Handelsstraße Via Regia. Wir erfahren, dass Naumburg den Spitznamen Pensionopolis trägt. Friedliche Beschaulichkeit zieht Menschen höherer Altersstufen magisch an. Tendenziell verjüngt sich die Bevölkerung seit einigen Jahren wieder. Die Großstadt Leipzig liegt in der Nähe.

Im altehrwürdigen Braugasthaus am Naumburger Marktplatz verbringen wir den Abend. Die ehemalige Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen und Landesvorsitzende der CDU Thüringen, Christine Lieberknecht, reiste mit uns von Weimar bis Naumburg. Als Kuratoriumsmitglied der Gesellschaft richtet sie ein Grußwort an die Gruppe, das von großer Freude über das gemeinsam Erlebte, Herzlichkeit und Emphase in der Rede getragen ist. Sie würdigt das Ansinnen der Maria-Pawlowna-Gesellschaft, mit der Schaffung einer Erlebnisroute eine Brücke zur Völkerverständigung mittels Kultur, Kunst und Tourismus zu schlagen. Internationalität, Toleranz und Offenheit prägen die Gruppe genauso wie Interesse und Humor.
Der Landrat des Burgenlandkreises, Herr Götz Ulrich, begrüßt uns und spricht über die Region Burgenlandkreis.

Marktplätze sind von jeher Attraktionen. So kann man in aller Frühe den Wochenmarkt in Naumburg bestaunen. Frisches aus der Region, Obst, Gemüse. Blumen leuchten in allen Farben. Fülle, Überfülle. Erdbeerzeit. Die aromatischen Früchte lachen rot und prall an den Ständen.

Wir dürfen noch einmal mit Dr. Matthias Ludwig zwei Stunden im Naumburger Dom genießen. Der Dom gilt als eines der bedeutendsten Kulturdenkmäler des Hochmittelalters, er wird als spätromanisch-frühgotisch eingestuft. Seit 2018 gehört er zum UNESCO-Welterbe. Ein Besuchermagnet.
Dr. Ludwigs Erklärungen machen uns sehend. Er spricht über den Mythos der Stifterfigur Uta von Naumburg und verweist auf die Erzählung von Günter Grass „Figurenstehen“ (2022). Sieben Jahre nach dem Tod von Grass erscheint dieses Buch über die Naumburger Uta und wird als kleine literarische Sensation gefeiert. Wir stehen vor den Bildnissen am Lettner, wir sehen ein mittelalterliches Chorbuch in Kopie auf einem der Zeit nachempfundenen Ständer. Er spricht über das große Altarbild von Michael Triegel, dem „Papstmaler“, das für den Ostchor des Doms geschaffen wurde. Allerdings sehen wir es nur auf einer Kopie. Momentan wandert es durch verschiedene Ausstellungen. Doch das Beste kommt bekanntlich zum Schluss: Als besonderes Geschenk öffnet sich uns die schwere, alte Holztür der Domstiftsbibliothek und des Domstiftsarchivs. Was für eine Chance!
Vorsichtig betreten wir den würdevollen Ort, der einen intensiven Geruch nach alten Büchern und Staub verströmt. Die Bestände zählen zu den kulturhistorisch bedeutendsten in Sachsen-Anhalt und sind von internationalem Rang. Kostbare und unersetzliche Einzelbestände wie Urkunden, Kopialbücher, Akten, Aufschwörtafeln, Inkunabeln etc. reichen bis ins Hochmittelalter zurück. Es handelt sich um schriftliche Überlieferungen des Domkapitels und der Naumburger Bischöfe. Herr Ludwig hat für uns überformatige, alte Bücher ausgelegt. Er zeigt die Bestandteile am Buch. Sehr beeindruckend!
Die Urkunde über die Aufnahme des Naumburger Doms in die Liste des Weltkulturerbes vom 4. Juli 2018 wird dort aufbewahrt. Ein eher selten modernes Stück in dieser Sammlung.
Und gerade darüber schwebt schweigend der Satz Erich Kästners: „Nur unterwegs erfährt man das Gefühl märchenhafter Verwunschenheit.“

Vorm Dom stehen die Kutschen. Dort erwartet uns eine große Überraschung: die Erstklässler aus Naumburg mir ihrer Lehrerin Frau Fiedelak winken uns mit selbstgebastelten Fähnchen und wünschen uns eine gute Reise in Deutsch, Russisch, Ukrainisch und Arabisch. Rührend!

Wir reisen durch die Landschaft des Saaletales im südlichen Sachsen-Anhalt gen Weißenfels. Eine milde Landschaft liegt vor uns, wir entdecken die stolze Schönburg und die beeindruckende Burg Goseck. Unterhalb von Goseck liegt die Öblitzschleuse.

Die Pferde können mit den Kutschen eine Unterführung nicht passieren. Wir kommen einfach nicht durch. Das bedeutet, dass eine Verspätung entsteht. Durch einige weitere Verzögerungen kommen wir an diesem Tag auf 2,5 Stunden Verspätung. Wir reisen mit Kutschen. Die Pünktlichkeit des Programmes gerät aus den Fugen. Die Aufregung darüber hält sich ganz in Grenzen.

Weißenfels. Die Kulturamtsleiterin der Stadt Weißenfels in Vertretung des Oberbürgermeisters Martin Papke und Frau Schulze, Stadtführerin und Ehrenbürgerin der Stadt Weißenfels, im historischen Kostüm, empfangen uns vor der Marienkirche am Markt. Freundlicherweise haben sie auf uns gewartet. Die Zeit drängt, wir werden ins Heinrich-Schütz-Haus geleitet. Dort wartet Dr. Maik Richter auf uns.
Das Zeit-Reisen, in dem wir jetzt schon Übung haben, setzt sich fort. Gerade aus den Urgründen des Naumburger Doms gekommen, begeben wir uns mit Heinrich Schütz ins 17. Jahrhundert. Wir stehen in seinem Wohnhaus, das der Komponist 1651 erwarb. Er verbrachte von 1657-1672 seinen Lebensabend hier. „…mein Lied in meinem Hause“ – die Komponierstube befindet sich im Dachgeschoß. Dort schuf er seine bedeutende Vokalmusik. Wir hören mehrfach Klangbeispiele. Dr. Richters kompetente Führung durch die Lebenswelt Heinrich Schütz‘ hinterlässt einen großen Eindruck. Er eröffnet uns plastisch den dichten Raum der Renaissance. Wie fern ist uns diese Zeit heute. Schütz‘ außerirdische Musik geht uns unter die Haut.
Langsam sind wir müde und haben uns das Abendessen verdient.

Nun haben wir nur noch 35 Kilometer bis Leipzig vor uns. Unsere Pferde und die Kutschen stehen in Lützen. Ein Halt an der Gustav-Adolf-Gedenkstätte. Der protestantische Schwedenkönig fiel hier 1632 in der Schlacht bei Lützen im Dreißigjährigen Krieg. 1907 stiftete das schwedische Konsulpaar Ekman eine Kapelle. Die Militärhistorikerin und Museumsleiterin, Teresa Schneidewind, gibt uns Einblick in den Schlachtverlauf im Museum.
Schwere Betroffenheit in der Gruppe über die Zahlen der Toten. Hier steht man direkt am Schlachtfeld. Alles rückt ganz nahe.

Und nun geht’s auf nach Leipzig! Nur noch vier Stunden liegen vor uns in den Kutschen.
Die Sonne ist zurückgekehrt.

Leipzig. Den ersten Halt erleben wir in der ehemaligen Fabrikstadt, der Leipziger Baumwollspinnerei. Sie galt als größte in Europa zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Genau 100 Jahre später wurde sie eine der interessantesten Produktions- und Ausstellungsstätten für zeitgenössische Kunst und Kultur. Im angesagten Mule-Café, einem ehemaligen Fabrikgebäude mit stilvoller Atmosphäre, stärken wir uns.

Danach die Einfahrt nach Leipzig in die Innenstadt. Wir können nur auf den städtischen Straßen langkutschieren. Von überall her schenken uns die Menschen Beachtung. Bauarbeiter auf Hochhäusern winken uns, Autofahrer, Schulkinder, Alte und Junge, Polizisten, Studenten. Es ist der Griff ins volle Menschenleben. Es macht allen Spaß, uns und auch den Zuschauern.

Am Stadtring Höhe Neues Rathaus findet die Kutschfahrt ihr Ende.
Wir verabschieden uns vom Bad Dübener Fuhrunternehmen Sonntag & Händler. Schießen Fotos zur Erinnerung. Wollen uns irgendwie nicht trennen.
Sonja kauft den guten Pferden schnell im Supermarkt frische Karotten, die sie gerne fressen.
Wehmut haben wir schon im Gepäck.

Im alten Barfußgässchen ein Abendessen im Zill’s Tunnel. Nachtschwärmer überall, die Straßencafés sind voll. Der Geschmack von Sommer. Eine Großstadt gibt sich die Ehre. Dementsprechend heißt unser Abendprogramm: Dinner Statements. Das Thema: „Dynastische und kulturhistorische Verbundenheit Deutschlands und Russlands: gemeinsame Geschichte ohne Zukunft?“ Wir treffen die Deutsch-Russische Gesellschaft zu Leipzig. Das Statement von Prinz Michael von Sachsen-Weimar-Eisenach wird vorgetragen.  Es sprechen Dr. Irina Tschistowskaja, Präsidentin der Maria-Pawlowna-Gesellschaft Weimar, Jörg-Ulrich Stange, der Vorsitzende des Kieler Zarenvereins e.V. und Dirk Udo Fricke im Namen der Deutsch-Russischen Gesellschaft zu Leipzig.

Bewegende Gespräche, auch Reiseteilnehmer melden sich zu Wort. Die vielen Anregungen der Woche, die Begegnungen mit schwerwiegenden historischen Ereignissen und ihren komplexen Herausforderungen, das gemeinsame Nachdenken im Gespräch — all das zeitigt seine Wirkung. Der Wunsch nach Frieden steht über allem.

Es wächst die Vorfreude auf Leipzig, war sie doch von einigen unserer Mitfahrer die Studienstadt, wurde länger zum Wohn- und Arbeitsort. Wie ist das Leipzig von heute? Wie hat es sich verändert? Peter Helbig als Stadtführer hilft uns auf die Sprünge. Im Sonnenschein trägt die Stadt ihr schönstes Kleid.
Es gibt ein Wiedersehen mit der eleganten Mädlerpassage, wir streicheln den goldenen Schuh des Herrn Dr. Faustus für unser Glück, sehen Moritz Götzes Mosaiken an den Wänden. Die Alte Handelsbörse am Rande des Naschmarktes, sie wurde im Frühbarock errichtet. Vor uns liegt der große Marktplatz mit dem Alten Rathaus.

Aber alles ist abgesperrt?
Das Bachfest „BACH for Future!“ tobt. Das größte Bach-Jubiläum „BACH300. 300 Jahre Bach in Leipzig“ wird opulent gefeiert. 1723 wird Johann Sebastian Bach Thomaskantor in Leipzig. Er zieht mit zwei Kutschen (!) von Köthen herüber in den Thomaskirchhof und schafft von da an Meisterwerk über Meisterwerk.
Auf der großen Bühne eine Probe mit Orchester und Chor. Am Abend BACHstage unter freiem Himmel. Einfach stehenbleiben. Bitte! Nur nicht weitergehen. Nicht sprechen. Hören. Bachs Musik tief drinnen aufnehmen. Was für ein sinnlicher Moment.
In diesem Augenblick mit jeder Faser Ankunft im historischen Leipzig.

Im Kaffeehaus RIQUET im Schuhmachergässchen. Am feudalen Eingang große steinerne Elefantenköpfe. Wir sitzen noch einmal zusammen. Ein besonderer Tag. UNSERE Maria Pawlowna — Gerlind Häublein — hat Geburtstag und ehrt ihn mit einer Runde gut gekühltem Sekt. Nun werden Abschiedsworte gesprochen.
Es geht um die Einzigartigkeit der Erfahrung, per Kutsche zu reisen. Ein Aus-der-Zeit-fallen. Um die zutiefst wohltuende Langsamkeit, die sich einstellt. Die alles rundherum vergessen lässt. Vor allem die Geschäftigkeit der Welt. Das digitale Zeitalter mit seinen ureigenen, vielgestaltigen (Miss-)Tönen. Seinem ständigen Auf-dem-Sprung-sein.
Dagegen eine konzentrierte Gedankenreise durch die Jahrhunderte zu setzen. In ihrer Dichte eine ganz einmalige Erfahrung. Es passiert ein Näherkommen an andere Lebensweisen in längst vergangenen Zeiten.
Unsere menschliche Gemeinschaft, die wir in diesen Tagen des Zusammenseins bildeten, ist besonders. Sie war in aller Lebendigkeit von großer Harmonie getragen.
Wir sind voller Dankbarkeit den engagierten Organisatoren gegenüber.
Was für ein Geschenk.
Pferde und die Arbeit der Kutscher haben uns sicher nach Leipzig chauffiert. Kein Wagenbruch, keine vom Regen aufgeweichten, unpassierbaren Wege, keine Sandböden, die das Fahren sehr erschweren, keine zwielichtigen Wegelagerer, die auf den nächsten Überfall spitzen.

Wir sagen Adieu.
Gleich wird uns alle der Leipziger Hauptbahnhof verschlingen. Menschenmassen, Geschäftigkeit, Unruhe, Lautstärke. Pfeilschnelle Züge bringen uns auf riesigen Schienennetzen in unsere umtriebigen Leben zurück. Wenn sich auch nur einige Minuten Verspätung ergeben, werden wir unruhig. Brummeln. Hadern mit dem Unternehmen, das uns korrekte Pünktlichkeit verspricht.
Wir fallen wieder in die Zeit. Ins Heute.

Fotos: Michael Pein, Holger Volk, Peter Reich, Jens Kosch, Irina Tschistowskaja, Thomas Knothe, Marie Helbig, Gerlind und Michael Häublein