Von Iris Kerstin Geisler
Vielleicht erinnert sich der Weimarer Schlossplatz an diesem Morgen des 5. Juni 2023 zurück: An die Zeiten, als Damen in langen Empirekleidern aus bestickter Seide, Samt, mit Jäckchen, glänzenden Schleifen, golddurchwirkten Gewändern, perlenbesetzten Hüten mit Tüllschleiern, aufwändigen Spitzenschirmen vorm Schloss tagein, tagaus entlangliefen. Und an die Herren in schwarzen Fräcken, frisch gebürsteten Zylindern, Westen, weißen Hemden mit steifen, hohen Kragen („Vatermördern“), als auch sie zum alltäglichen Stadtbild der Residenz gehörten.
Die historische Aufmachung unserer Reisegruppe zieht die Presse an, ein Filmteam und Schaulustige, die sich schon in aller Frühe um 8 Uhr morgens einfinden.
Sonnenschein, welch glücklicher Reisevorbote!
Gisela Kordes und Jörg-Ulrich Stange sind aus Kiel angereist, um uns zu begleiten. Jörg-Ulrich Stange hat den Vorsitz des Kieler Zarenvereins inne.
Der Weimarer Bürgermeister Ralf Kirsten begrüßt und wünscht uns das Beste für das ungewöhnliche Unternehmen. Mit Kutschen soll es nach Sachsen gehen. Auf abseitigen, ungehobelten Pfaden nach Leipzig, in die große Stadt. Vier ganze Tagesreisen von Weimar entfernt.
Und dann kommen die Kutschen auf den Schlossplatz vorgefahren. Die Kutscher schwingen die Peitschen, sitzen auf den hohen Kutschböcken in gelben Uniformen. Alles strahlt.
Die große gelbe Postkutsche, ein Nachbau der ehemaligen „Sächsischen Pferdepersonenpost“. Das steht in Sütterlin an der Tür. Darüber ein Posthorn. Ein Vierspänner. Sie fasst neun Personen! Die zwei kleineren sind Landauer-Zweispänner mit verstellbaren Verdecken, für je vier Personen. Alle staunen sie an. Die elegante Schönheit alter Tage, deren Anblick in der modernen Welt verschwunden ist. Hier dürfen wir wirklich einsteigen? Wir schauen und schauen und können uns nicht abwenden.
Das Staunen bleibt auf der ganzen Reise. So auch der Geruch der Pferde, ihr Wiehern, ihr Trappeln.
Postillione früherer Zeiten waren Männer, heute kutschieren uns Monika Sonntag, Kerstin Händler und Siegfried Händler und uns als Beifahrer sind Kerstin Bazan und Hartmut Ullrich dabei. Unser fleißiger „Marketender“ ist Fabian Sonntag. Alle tragen zünftige Hüte. Schon wird flink eine Leiter an die Postkutsche angestellt, wir dürfen auf dem steilen Stieg hinein. Der Kutscher hält eines jeden Hand, bei jedem Ein- und Ausstieg. Zu unserer Überraschung finden wir innen ein mit dunkelgrünem Samt ausgeschlagenes Coupé vor! Und weich gepolsterte Plätze! Das Verdeck lässt sich öffnen. Übrigens brauchen wir keinen Reisepass, wie damals üblich. Die Personaldokumente waren noch nicht erfunden. Man beschrieb anhand persönlicher Merkmale die Reisenden, ihre Gesichtsfarbe, ihre Bartform etc. Handschriftlich mit Feder und Tusche. Auf gewöhnliches Papier jener Tage. Innenplätze galten als die teuersten.
Unser Brautpaar, die russische Großfürstin Maria Pawlowna und der Erbprinz Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach – Gerlind und Michael Häublein – reist in einem Zweispänner. Bei der Ausfahrt stößt der Kutscher – wie es sich gehört – ins Posthorn. Die Schaulustigen winken. Und unser Musiker Michael Pein stimmt das Volkslied „Hoch auf dem gelben Wagen“ an. Im Tempo von 6 km/h liegt die Stadt bald hinter uns. Wir singen. Die Pferde trappeln. Ganz langsam gleitet die Landschaft an uns vorbei. Die Kutschen schaukeln, aber nicht so heftig wie erwartet. Es ist ein stilles Dahinziehen, die Vögel zwitschern um uns herum. Verdeck und Fenster geöffnet, sind wir ganz in der Natur. Keine Bundesstraßen, keine Landstraßen. Nur in Ausnahmefällen nehmen wir sie, wenn es vom Weg her gar nicht anders möglich ist. Feldwege. Wiesenwege, ausgespült vom Regen. Über Stock und Stein. Auf den Waldwegen ist es besonders heimelig: überall frisches Grün um uns herum, Zweige ragen plötzlich von allen Seiten in die Kutsche hinein. Wir erschrecken ein bisschen und lachen. Und fangen an zu erzählen. Einander kennenlernen. Stellen fest, dass wir eine internationale Gruppe sind.
Wir singen deutsche Lieder, die russischen Frauen singen russische Lieder. Michael und Irina sind wahre Meister im Spielen der Gitarre, wenn es ab und an mal tüchtig holpert.
Schon in der ersten Stunde setzt eine Entschleunigung ein, die uns ganz aus der Zeit heraushebt. Sie hält an. Mit jedem Einstieg in die Kutsche diese Zeitverschiebung. Sich ganz langsam durch die junigrüne Natur zu bewegen, vorbei am roten Mohn, der an den Feldrändern steht. Die aufgegangene Saat zu beobachten. Alte Heckenrosenbüsche mit rosa Blüten und Holunderbüsche mit stark duftenden Dolden. Am Wegrand viele kleine Frühlingsblumen, bunt. Man will das Auge einfach nicht davon lassen.
Nach einer Stunde erreichen wir das Dorf Süßenborn. Ein Sopransaxophonist bläst zu unserer Begrüßung eine Weise. Bürgermeister Christiani ganz im historischen Kostüm und auch andere Süßenborner! Sie bereiten uns einen herzlichen Sektempfang. Mitten im Ort steht die vor kurzem enthüllte Schautafel der Maria-Pawlowna-Gesellschaft, die in deutscher und englischer Sprache die Reiseroute des Brautpaares von 1804 nachzeichnet und erklärt.
Süßenborner Apfelsaft, eine Spezialität, wird uns zu Fettbroten gereicht. Am Ort liegen Streuobstwiesen mit ganz alten Apfelsorten an, aus denen der milde Apfelsaft bereitet wird. Ein erfrischender Genuss!
Weiter geht die Reise nach Apolda. Wir machen eine Kaffeepause an einem Pavillon am See im Park. Und Beate Herrmann, die „Jungfer Wenzel“, die uns zur Postgeschichte in Weimar geführt hatte und heute mit uns reist, hat Geburtstag. Wir singen russische und deutsche Geburtstagslieder für sie. Das bringt noch mehr Leichtigkeit und Freude in die Gruppe. Irina schenkt roten Johannisbeerlikör homemade by herself ein. Köstlich! Und Beate Herrmann, heute als Caroline Falck kostümiert, liest uns aus dem Kriegsbüchlein des Weimarer Pädagogen und Begründer der Jugendsozialarbeit, Johannes Daniel Falk, von 1813 vor.
Wir verlassen Apolda Richtung Auerstedt.
Die Kutscher rufen: Hepp! Hepp!, schwingen die Peitsche und schnalzen mit der Zunge. Die Pferde gehorchen sofort, trappeln los. Wir schauen hinaus. Und singen mit Michael zur Gitarre.
Sobald wir mit der Kutsche durch die Dörfer ziehen, kommen Menschen aus ihren Häusern, zücken ihre Handys, filmen blitzschnell oder lächeln uns einfach beglückt und überrascht an. Manche winken, trauen ihren Augen nicht und staunen über das seltene Spektakel. Ein Zauber geht von diesen alten Kutschen aus, die man ja nie mehr einfach so vor der eigenen Haustür sieht. Als lebten alte Kinderbücher aus längst vergessenen Tagen wieder in uns auf.
Zwischendurch steigen wir vor einer Anhöhe einmal aus, um die Pferde zu schonen. Sie sollen uns noch viele Kilometer durch die Landschaft bringen. Eine Entlastung. Ein fröhliches Wandern die Straße hinauf.
Auerstedt. Bürgermeister Dirk Schütze und engagierte Auerstedter Bürger erwarten unsere Ankunft in der Ortsmitte. Nach einer herzlichen Begrüßung wird die nächste Maria-Pawlowna-Gedenktafel enthüllt. Die Presse und SALVE TV begleiten es. Wir genießen gut gekühlten Prosecco.
Gleich im Anschluss können wir das Historische Kutschenmuseum am Schloss besichtigen. Es gibt eine Führung. Wie genau passt dieses Museum in unsere Zeitreise, in unser Zeitgefühl des beginnenden 19. Jahrhundert. Da lebte Friedrich Schiller noch in Weimar!
Wir bestaunen die acht Kutschen des Weimarer Hofes, ihre prunkvolle Ausstattung, die Winter- und Sommerkutschen. Alle tragen unterschiedliche Namen, ganz nach ihrer Verwendungsform. Ehrfurchtsvoll stehen wir vor der originalen Hochzeitskutsche von Maria Pawlowna, in der sie mit ihrem Gemahl Carl Friedrich nach ihrer Hochzeit von Sankt Petersburg nach Weimar fuhr. Sie ist ein Geschenk ihres Bruders, Zar Alexander. Sie waren vom 7. Oktober bis zum 9. November 1804 damit unterwegs. Die Kutsche war in ihrer Zeit so modern ausgestattet, dass sie sogar eine kleine Reisetoilette enthielt, die gezeigt wurde. Ein Herr des Sächsisch-Werderischen Corps (SWC), Herr Witzel aus Großenneuhausen, steht in der originalgetreuen Uniform des Corps im Museum. Er wirkt so echt – wie aus der Zeit gefallen. Gestattung und Verbot des Corps wechselten sich in den Zeiten ab. Herr Witzel betreibt Traditionspflege in einem Schützenverein im Heimatort. Die Familie von Neuendorf von der „Wettiner Fürstenstraße“ ist in historischen Kostümen auch dabei.
Neben den Kutschen gibt es eine Sammlung historischer Landwirtschaftsgeräte aus der Umgebung.
Voller Eindrücke und in bester Reiselaune speisen wir in der Gruppe im Schloss Auerstedt. Es gibt heute wie auch an folgenden Abenden genug zu plaudern.
Viel Applaus und Dankbarkeit gehen an das wunderbare Organisationsteam!